Bitte ausreichend Abstand halten!
Ich bin in die Breite gegangen. Nicht, dass ich zugenommen hätte, aber nach sieben Wochen Corona-Lockdown habe ich das deutliche Gefühl, dass mein Körper sich erweitert hat. Nicht nur nach links und rechts, nein auch nach vorne und hinten, fühlt er anderthalb Meter weiter in den Raum um mich hinein als früher, so, als hätte mein Tastsinn Tentakel bekommen oder als steckte ich in einem Kokon.
Wenn irgendein anderer Mensch - ausgenommen die drei Menschen, mit denen ich zusammenlebe - in dieses hochsensitive Feld hineingerät, gibt es eine Art Abstoßungsreaktion, wie wenn man zwei Magnete mit den gleichen Polen aneinanderhält. Sosehr habe ich sie inzwischen verinnerlicht, die Abstandsregel. Und andere offenbar auch, denn wieso brüllt der bärtige Mittvierziger sonst einen älteren Herrn an der Supermarktkasse an: „Halten Sie gefälligst Abstand“? Die Intimzone um den Körper herum hat sich von 40 Centimetern auf 150 Centimeter ausgedehnt. Alle scharwenzeln wie rohe Eier umeinander herum. Bloß nicht zu nahe kommen! Die Vernunft und die Rücksichtnahme ersetzen das natürliche Körpergefühl.
Aber nicht bei Kindern. Da funktioniert das nicht. Nein, mein vierjähriger Sohn hält keinen Abstand. Mit einem Nachbarjungen auf der Straße ist er gleich auf Tuchfühlung. Die beiden lachen, stecken die Köpfe zusammen, alles andere wäre doch unnatürlich, denn wie kann man Abstand halten, wenn jemand so lieb ist? (Und ich kann es mir auch noch nicht vorstellen, wie unsere Schülerinnen und Schüler im Präsenzunterricht ab nächster Woche das hinbekommen werden.)
So wohl auch Maria aus Magdala am Grab des Auferstandenen (Joh 20,17): „Noli me tangere - Fass mich nicht an!“, sagt Jesus zu ihr; andere übersetzten: „Halte mich nicht fest!“ In der großen Freude, dass er lebt, ist sie ihm offenbar zu nahe gekommen. Und Jesus braucht Abstand. Er muss frei bleiben. Man kann ihn nicht festhalten, nicht haben und behalten. Das wollen wir ja oft am liebsten, wenn ein inspirierender Mensch uns begegnet ist, wenn wir einen glücklichen Moment erlebt haben oder Gottes Gegenwart einmal spüren durften. Dann wollen wir keinen Abstand zwischen uns und dieses Wunderbare kommen lassen.
Vielleicht kann der ungeliebte Corona-Abstand aus Nächstenliebe für uns zum Symbol dafür werden, dass wir lernen müssen, dem anderen Menschen und auch dem Leben, das uns begegnet, einen Abstand zuzubilligen, Luft zum Atmen, Freiheit, ganz anders zu sein, ganz anders zu werden, als wir uns das gedacht hatten. Das tut ein bisschen weh, aber es ist der Schmerz, den die Raupe empfindet, wenn sie den Kokon verlässt und zum Schmetterling wird.
Beatrix Mählmann, 02.05.20