Laut dem italienischen Schriftsteller und Holocaustzeitzeugen Primo Levi ist es geschehen und kann folglich wieder geschehen. Seine Aussage bezieht sich auf die Shoah, die organisierte Vernichtung des jüdischen Volkes, als deren Beginn die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 angesehen werden kann. Auf Geheiß des Staates wurden 1400 jüdische Gotteshäuser, Versammlungssäle und Friedhöfe sowie zahlreiche Geschäfte und Wohnungen zerstört und geplündert. Vor allem aber ließen sich auch nicht organisierte Menschen in fast allen Städten in nicht unerheblichem Maß zur Teilnahme an den Ausschreitungen hinreißen; dies gilt insbesondere für die Plünderungen, aber auch für tätliche Angriffe und körperliche Misshandlungen, im Zuge derer Hunderte Juden getötet wurden.
Die Schulgemeinschaft des Bischöflichen Cusanus-Gymnasiums wollte dem achtzigsten Jahrestag der Reichspogromnacht eine besondere Form verleihen.
So wurde der Tag im Vorfeld von einem zehnköpfigen Team aus Schulleitung, Schulseelsorgern und Lehrkräften sowie einer Vielzahl engagierter Schülerinnen und Schüler durch Projektarbeiten vorbereitet, welche die Gräueltaten der Nationalsozialisten in unser Bewusstsein rücken sollten: „Wir haben uns in einer Kleingruppe mit dem KZ Hinzert beschäftigt. Bei der Recherche haben wir z. B. erfahren, dass die Häftlinge Toilettenwasser trinken und Futterabfälle vom Vieh essen mussten. Dies hat uns sehr geschockt und zu denken gegeben“, so Hendrik Schüller, Maximilian Luft und Elias Demerath.
Ein Ziel des Gedenktages war es, die Lebensgeschichten der Opfer nachzuzeichnen und so „Lebensbilder plastisch vor Augen zu haben“, erklärt der Schuleiter Carl Josef Reitz. Ferner spielte auch das Identifikation stiftende Moment des Cusanus-Gymnasiums eine entscheidende Rolle. „Unsere Schule, damals noch die Ursulinenschule, besuchten in den Jahren 1933 bis 1938 mehr als 20 jüdische Mädchen, denen es nach den Novemberpogromen verboten war, deutsche Schulen zu besuchen“, berichtet Reitz.
Elly Dührkoop und Lara Sauer aktualisierten eine sich in der Eingangshalle befindliche Gedenktafel jüdischer Schülerinnen. Besonders berührt hat die beiden Mädchen dabei unter anderem das Schicksal von Ilse David, die nach Auschwitz deportiert wurde, denn damit verbinde man laut Lara „die Hölle auf Erden“. Zudem sei das Leid der Opfer mit konkreten Namen viel näher und damit greifbarer als die unfassbaren Zahlen, die man bereits so oft gehört habe. Generell mahnen die beiden Mädchen die Verdinglichung von Menschen an und sehen den Sinn ihrer Arbeit darin, dass sie der Auslöschung der Opfer und damit dem Ziel der Nazis entgegen wirken konnten, obgleich sich ihr Vorhaben schwierig gestaltete. „Von manchen war nicht einmal mehr ein Geburtsdatum zu finden“, erklärt Elly.
Für die Mittelstufe begann der Tag nach einem gemeinsamen Gebet mit einer Installation in der Schulkapelle, die zu einem Gedenkraum gestaltet wurde, der an die israelische Gedenkstätte Yad Vashem erinnerte. Dabei wurden die Namen von 338 verfolgten Koblenzer Juden vom Tonband verlesen und dazu Bilder gezeigt, bevor die Schüler nach einer Steinlegung im Sinne des jüdischen Begräbnisrituals zu einem ausgewählten Namen in den Fluren der Schule ein Einzelschicksal recherchieren durften. Diese „Fluraustellung“ bestand aus Informationstafeln und Stolpersteinen, die an die jüdischen Schülerinnen der Ursulinenschule erinnern sollten, denen der Schulbesuch untersagt wurde und die später deportiert wurden. „Hier konnte man erst einmal runterkommen und wirklich nachdenken“, berichtet Mia Rüdell aus der Klasse 7a. Auch für die Schülerinnen und Schüler der siebten Jahrgangsstufe war unser Schulgebäude als konkreter Ort der Ereignisse wichtig, um sich besser in die Situation der Opfer einfühlen zu können. Denn es ist lediglich dem Zufall geschuldet, dass sie selbst sich 80 Jahre später als Ilse David und die anderen Ursulinenschülerinnen dort aufhalten. So kann Empathie entstehen.
Die älteren Schülerinnen und Schüler versammelten sich derweil in der Florinskirche. Auch hier war es von essentieller Bedeutung, ausgehend von den Namen die Geschichten hinter den Opfern, die eine Schülerin zu Beginn verlas, erfahrbar zu machen. Der stellvertretende Vorsitzende des Fördervereins Mahnmal Koblenz, Joachim Hennig, skizzierte zunächst den historischen Hintergrund zum Reichspogrom. Auf dieser Grundlage erweckten die Schüler die Daten zum Leben, indem die ehemalige Cusanus-Schülerin Marie Hirsch eine selbst verfasste Kurzgeschichte rezitierte, die uns nachfühlen lassen konnte, wie sich das Pogrom angefühlt haben könnte. Ein Religionskurs las aus den Briefen der Koblenzer Familie Herrmann, deren Status nach langer Leidensgeschichte - die uns sehr ergreifend präsentiert wurde - mit „verschollen“ mehr als euphemistisch umschrieben wurde. Was das bedeute, könne man sich vorstellen: erschlagen, erschossen, vergast, so der Leiter des Religionskurses, Hubert Huffer. Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung durch diverse Stücke jüdischer Komponisten, die der Musiklehrer Christian Rivinius zusammen mit der Schülerin Anna-Lena Papst zu Gehör brachte.
Ein weiteres Projekt bestand in der Übernahme einer Patenschaft für einen Stolperstein in der Koblenzer Rizza-Straße, der an Familie Cohn erinnern soll, deren Tochter Anneliese zwischen 1929 und 1939 ebenfalls die Ursulinenschule besuchte und der Shoah zum Opfer fiel. „Die Menschen, die gestorben sind, haben keine Gräber. Eigentlich sollten alle Opfer des Holocaust einen solchen Stein erhalten. Jedenfalls hat es uns geholfen, mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen“, so Lena Rosenberg, Hannah Israel und Soraya Görges. Elisabeth Dingendorf, die gemeinsam mit vier weiteren Schülern aus dem Geschichtsleistungskurs unter der Leitung von Krister Berends über das Leben dieser Familie geforscht hatte, versichert: „Wir werden diesen pflegen und so die Verantwortung übernehmen, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wachzuhalten“.
Der Gedenktag erinnert an Menschen, die eine menschenunwürdige Vergangenheit ertragen mussten und verweist gleichermaßen auf die Zukunft, die unsere Schülerinnen und Schüler gestalten werden. Im Zentrum stehen dabei Werte wie Toleranz, Respekt und Solidarität, die zu den wichtigsten Grundpfeilern einer pluralistischen Gesellschaft gehören, gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und im Hinblick auf aktuelle Ereignisse wie beispielsweise die fremdenfeindlichen Übergriffe in Chemnitz.
von Alexander Barth